15.07.2022
Die Südamerikanerinnen sind zum ersten Mal bei einer Weltmeisterschaft dabei und beleben das Geschehen durch ihre erfrischende und emotionale Art.
Man musste sich schon die Augen reiben, und so ganz ist es auch nicht leicht über die Lippen gekommen: die deutsche Mannschaft hat ihr WM-Auftaktspiel gegen die Mannschaft von Chile bestritten. Die „Dark Horses“ in der deutschen Gruppe haben diese mächtig aufgewirbelt und haben anfangs ein ähnlich märchenhaftes Turnier gespielt wie bei der Weltmeisterschaft 2018 die Irinnen, die nach ihrem Vizeweltmeistertitel sich diesmal jedoch nur in den Platzierungsspielen um Platz 9-12 wiederfinden.
Der argentinische Erfolgstrainer Sergio Vigil, der die argentinischen Damen bei den Olympischen Spielen in Sydney 2000 zur Silbermedaille und zwei Jahre später zum ersten Weltmeistertitel gecoacht hatte, hat die Mannschaft vor sechs Jahren übernommen – auf Bitten des Präsidenten des chilenischen Hockeyverbandes. Dieser reiste 2015 eigens nach Argentinien und warb den Ex-Nationalspieler mit den Worten an, er wolle mit ihm eine Hockeyrevolution in Chile starten, um dort die Leidenschaft für Hockey zu entfachen. Vigil war sofort Feuer und Flamme, und wer ihn kennt, weiß auch, dass es bei ihm nicht ohne beides geht. Im Januar 2016 fing er in Chile an und hat sukzessive die Mannschaft aufgebaut, die seit einigen Jahren auch bei den amerikanischen Kontinentalmeisterschaften immer wieder vorne auftauchte und schließlich im Januar 2022 in Santiago bei den Pan-American Games als Drittplatzierte die Qualifikation für diese Weltmeisterschaft schaffte.
Vigil ist kein Unbekannter in der Hockeywelt, lange Jahre trainierte er auch die argentinische Herrenmannschaft. Der erste Schritt in Chile sei für ihn also gewesen, so erzählt der 56-Jährige, den sie dort alle nur Cachito nennen, davon zu träumen, zu Weltmeisterschaften und zu Olympischen Spielen zu fahren. Daher startet bei ihm die Vorbereitung im Kopf, und die Psyche ist ein wichtiger Bestandteil des Spiels. „Wir haben uns vor allem im Kopf vorbereitet, um bei Olympia und der WM dabei zu sein. Ich glaube, dass der erste Punkt ist, dass man sagt, dass es möglich ist. Dieser Prozess hat sechs Jahre gedauert, aber nun sind wir hier“, strahlt er.
Chile-Trainer Sergio Vigil (rechts) freut sich mit seinem Co- bzw. Bank-Coach Diego Amoroso (links) über das gelungene WM-Debüt von Chiles Damen. Foto: Worldsportpics
Die deutsche Mannschaft bekam dies bereits im Auftaktmatch zu spüren, die Chileninnen spielten mit Feuer im Herzen und gaben nie auf. Bereits als die Hymne ertönte, flossen beim emotionalen Argentinier, der die Mannschaft nicht von der Bank, sondern von oben auf der Tribüne coacht, die Tränen. Später erklärt er, dass es so emotional war, weil ihm einfach bewusst war, dass alle Mädels so sehr auf diesen Moment hingearbeitet hätten, um dort zu stehen. Vigil teilt diese Emotion und freute sich sichtlich am Moment, dass er etwas Besonderes vollbracht hat.
Die Mannschaft hat er übernommen, als die Spielerinnen noch jünger waren, und hat sie geformt. Nun gibt es sechs Spielerinnen, die erfahren sind, und viele weitere Spielerinnen, die durch das System hochgekommen sind und die Entwicklung mitgemacht haben. Bereits jetzt sehen die Jüngeren diese positive Entwicklung und sind dadurch hochmotiviert. Vigil glaubt, dass die Mannschaft nun ein Vorbild sein kann und in ein paar Jahren viele Chileninnen dazu bringen kann, Hockey zu spielen. Es sei wahnsinnig wichtig für die chilenische Mannschaft, bei der WM dabeizubleiben, um diesen Prozess zu ermöglichen.
Die mitgereisten Fans geben ihm jetzt schon recht, unter ihnen Daniela Sabioncello, die 15 Jahre alt ist, auf eine englische Schule in Chile geht und mit zehn Jahren in der Schule angefangen hat, Hockey zu spielen. Mittlerweile spielt sie in der U16-Nationalmannschaft. „Ich bin so stolz darauf, was ich gemacht habe, wer ich geworden bin und wer ich sein will. Und ich bin so stolz auf mein Land, wir sind alle zusammen gewachsen“, platzt sie fast vor Stolz, als sie davon erzählt. Sabioncello ist in Amsterdam mit ihrer Mutter, die kein Hockey spielt, aber ihre Tochter unterstützt und ebenso stolz ist. Auch hier ist das Feuer schon entfacht.
In Chile gibt es momentan allerdings nur rund 10.000 Spielerinnen. Doch in den letzten vier Jahren gab es eine spürbare Steigerung, berichtet Vigil. Chile sei wie Argentinien vor zehn bis 15 Jahren, urteilt Vigil, und das Land habe ein enormes Potenzial. In den nächsten sechs Jahren kann Chile sich in den wichtigen Turnieren der Welt etablieren, ist er sich sicher. Allerdings weiß er noch nicht, ob er die Mannschaft selber dabei begleiten wird. Es ist der Anfang eines Prozesses, sagt er, und sein Credo ist, das zu genießen. Er denkt, dass die Diablas, wie sich die Chileninnen nennen, immer in seinem Herzen sein werden. Auch wenn er nicht mehr der Coach ist, wird er dieser Mannschaft in seinem Herzen verbunden bleiben, sagt der stets sehr emotionsreich coachende Vigil. So ein Prozess verbindet, und auch Daniela Sabioncello hat er bereits mitgenommen.
Die chilenische Fankolonie auf der Tribüne im Wagener-Stadion war so temperamentvoll bei der Sache wie das Chile-Damenteam auf dem Platz. Foto: Worldsportpics
Vigil ist insgesamt ein sehr emotionaler Mensch, während des Spiels ruft er ständig ins Feld und sitzt selten still auf der Tribüne, sondern geht meistens gestenreich und lautstark mit seinen Mädels mit. In dem Moment, als beim Auftaktspiel gegen Deutschland die Nationalhyme gespielt wurde, flossen bei ihm unweigerlich die Tränen, nicht nur wegen seinen Mädels, sondern auch weil sein deutscher Kollege Valentin Altenburg vor dem Spiel zu ihm gekommen sei und ihn umarmt hätte und gesagt hat, dass er sich immer daran erinnern soll, sei ein besonderer Moment für ihn gewesen.
Auch die Spielerinnen sind Feuer und Flamme und kämpfen auf dem Platz um jeden Meter, was Deutschland am eigenen Leib erfahren hat. Die in Hamburg beim Klipper THC groß gewordene Kim Jacob, die nur als Nachrückerin mitgefahren ist, hat angefangen Hockey zu spielen, als sie drei Jahre alt war und spielt seit 2014 bei den Erwachsenen und ist seit 2016 in der Mannschaft, als sie nach der Juniorinnen-WM in die Nationalmannschaft aufgerückt ist. Auch wenn sie in Amsterdam nicht spielt, ist sie trotzdem sehr froh dabei zu sein, um diese Erfahrung zu machen. Sie erzählt, dass viele Spielerinnen aus den britischen Schulen kommen, und ein paar auch in den Clubs spielen, aber das sei dabei, sich zu verändern.
Valentin Altenburg zollte den Chileninnen großen Respekt für ihre Leistung gegen die deutsche Mannschaft im Auftaktspiel. Sergio sei einer der besten Trainer der Welt, erklärt Altenburg, und der wusste auch besser als die deutsche Mannschaft, was ihn erwartet. Eine Umstellung zur Halbzeit zog den hochmotivierten Chileninnen dann aber nicht ganz den Zahn, die Mannschaft fightete immer noch um jeden Ball und zeigte, dass sie es sich verdient hatte, bei dieser WM dabei zu sein, aber gab den Deutschen letztendlich das Momentum zum Sieg. „Das Spiel war ein so besonders Spiel für Chile, wie Staff und Mannschaft die Hymne weitergesungen haben und mit welcher Freude die ins Spiel gegangen sind, das war ein wahnsinnig starker Gegner“, sagt Altenburg. „Sie haben alles, was sie haben, in dieses Spiel reingeschmissen. Man hat das Historische die ganze Zeit gespürt.“
Als dann Denise Krimerman kurz vor der Halbzeit gegen Deutschland das erste Tor bei einer WM für Chile schoss, gab es bei Sergio Vigil kein Halten mehr, und er hüpfte auf der Tribüne auf und ab, während die Diablas auf dem Platz feierten, als wenn sie gerade den Titel gewonnen hätten. Und das Träumen ging märchenhaft weiter. Gleich im zweiten Turnierspiel schafften die Chileninnen die kleine Sensation, die Vizeweltmeisterinnen aus Irland 1:0 zu schlagen. „Als wir das Tor gegen Irland geschossen haben, habe ich es noch nicht geglaubt“, erzählt Vigil, „und dann ist mein Herz fast aus dem Körper gesprungen.“ Weil es das allerwichtigste Tor in ihrer Geschichte gewesen sei, denn dieses Tor hat es den Chileninnen ermöglicht, in die Cross-over-Runde zu kommen, welches eben die wichtigsten Spiele bei einer WM sind. Für die Mannschaft sei es eine Wahnsinnserfahrung, „es ist fantastisch, einzigartig“, so der Coach.
Gerade ist das erste chilenische WM-Tor überhaupt gefallen. Favorit Deutschland (in schwarz) gewann trotz heftiger Gegenwehr des Neulings am Ende mit 4:1. Foto: Worldsportpics
Bezeichnend sei auch gewesen, dass, obwohl Irland in der ersten Halbzeit besser gewesen sei, seine Mannschaft nie aufgesteckt habe und sie immer wieder verteidigt hätten. „Manchmal kann man einfach nicht besser spielen als die anderen, aber man darf das Selbstvertrauen nicht verlieren“, sagt Vigil. „Man muss dann auch reflektieren, denn ohne das Kognitive ist es auch nicht intensiv. Und als wir gegen Holland mit 1:1 zur Halbzeit in die Kabine gegangen sind, war das auch schon wieder unglaublich. In der zweiten Halbzeit haben wir das Spiel gespielt, was wir spielen können, und den Ball nicht hergegeben, damit sie nicht kontern können. Wir haben aus dem Deutschland-Spiel viel gelernt und haben Selbstvertrauen getankt für das Irland- und das Holland-Spiel“, resümiert er. Zum Holland-Spiel waren seine Schützlinge als Spielvorbereitung singend und tanzend an der Haupttribüne vorbeigegangen, gefeiert und eingestimmt von der großen Anzahl an chilenischen Fans auf der Tribüne.
Viele waren aus Chile angereist, um bei diesem historischen Moment des chilenischen Hockeys dabei zu sein. „Es ist historisch für Chile, wir waren eine ganz kleine Mannschaft und wussten nicht viel“, erzählt Daniela Sabioncello. „Aber wir Chileninnen spielen immer mit dem Herzen, und das ist so wichtig. Man kann alles haben, Fitness, Skills, aber das Herz ist der wichtigste Faktor. Chile ist so gewachsen, seit es mit dem Hockey losging.“
Und die Diablas schafften es in dem Holland-Spiel und vor allem durch das Tor tatsächlich, dass sogar der Olympiasieger nervös wurde und sichtlich die Körpersprache änderte. „Meine Mannschaft ist sehr wissbegierig, und wir lernen auch aus diesem Spiel. Holland gewinnt solche Spiele, auch wenn sie nicht ihr bestes Hockey spielen, darum sind sie Weltmeister und Olympiasieger. Wir lernen von jeder Mannschaft, gegen die wir spielen und verbessern uns und wachsen“, sagt Vigil. Die Psychologie ist ihm dabei genauso wichtig wie das sonstige Training. Mit einer Psychologin hätten sie von Anfang an gearbeitet, die fantastisch sei. Und dabei fehlte im Holland-Spiel sogar noch seine Kapitänin Camila Caram, die vom deutschen Turnierdirektor Christian Deckenbrock für dieses Spiel gesperrt worden war weil sie im vorangegangenen Spiel ihre irische Gegenspielerin mit dem Schläger im Gesicht verletzt hatte. „Eine tolle Frau und eine tolle Spielerin, die uns sehr gefehlt hat“, bestätigt der Argentinier, und es tat ihm in der Seele weh, dass sie nicht spielen konnte, weil sie Hockey so liebe und auch bei diesem historischen Moment dabei sein wollte und ihn erleben wollte. Tatsächlich haben also nur 15 Chileninnen diese Leistung gegen Holland gebracht. Vigil setzt auch dabei voll auf Teamwork: In der Halbzeit des Holland-Spiels habe er, um beiden die Erfahrung des Topspiels zu geben, die Torhüterinnen ausgetauscht und hatte mit beiden vorher gesprochen. Nach dem Spiel freute er sich, dass seine Torsteherinnen „zusammen gespielt“ hätten.
Francesca Tala wird auf Händen getragen. Ihr Treffer gegen die Niederlande hatte ganz besondere Folgen: Sie machte ihrem Freund einen spontanen Heiratsantrag. Foto: Worldsportpics
„Jedes Spiel ist schwer, jedes Spiel ist fantastisch, jedes Spiel wird eine neue Herausforderung. Und wir lieben es!“ strahlt der Trainer. Und auch die Fans sind glücklich: „Das war das erste Spiel gegen Holland seit 2013. Das letzte Spiel haben wir ungefähr 0:10 verloren, man sieht den Fortschritt dabei. Wir waren hier lange gleichwertig“, sagt Daniela Sabioncello. Die chilenischen Fans und Familien standen auch nach Spielende noch deutlich länger an der Mixed Zone als die holländischen Fans - und das will schon etwas heißen, denn die Gastgeberinnen sind bei der Heim-WM ständig umlagert.
Besonders Francesca Tala, die Torschützin des Ausgleichs im Holland-Spiel, wurde nach dem Spiel gefeiert und in die Höhe geworfen. Grund hierfür war jedoch nicht nur der historische Treffer gegen diese Topmannschaft, sondern weil damit noch eine ganz besondere Geschichte verbunden war. Tala („Wir sind die Überraschung des Turniers. Es ist ein Traum von uns, hier zu spielen, jeder einzelne Moment.“) erzählte im TV-Interview, dass sie vor dem Spiel ihren Teamkameradinnen angekündigt hatte, dass sie im Falle eines Torerfolges gegen Holland ihren Freund heiraten würde. Gleich nach dem Spiel hat die Stürmerin den Auserwählten dann tatsächlich von der Tribüne aufs Spielfeld geholt, und er hat ja gesagt. Ein weiterer Höhepunkt in dieser chilenischen Traumreise. Claudia Klatt
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